Griffith – Schattenprinz

Aus: Clay & Susan Griffith, Vampire Empire – Schattenprinz (Heyne, 2011), S. 108-110

London war ein Leichenhaus.

Adele roch die Stadt, lange bevor sie sie sah. Trostlose Stunden waren verstrichen, in denen sie in der Kabine des armseligen Luftschiffs eingesperrt gewesen war, mit nichts als den Gedanken an ihren armen Bruder, um ihr Gesellschaft zu leisten. Bei Sonnenaufgang erlaubte man ihr, unter wachsamen Augen an Deck zu kommen. Sie hüllte sich in eine stinkende Decke, um das Zittern in Schach zu halten, das nur zum Teil von der feuchtkalten Luft herrührte.

Als der Schatten des Luftschiffs von der schiefergrauen See auf das wogende Grün Südenglands glitt, keimte ein Funken Faszination in Adele auf, der sie dankbarerweise von ihrer Lage ablenkte. Das Land weit unter ihr war das Land ihrer Vorfahren, ein Reich der Legenden und Helden, das von ihrer Familie in hohen Ehren gehalten wurde. Natürlich war kein Mitglied der kaiserlichen Familie je in Großbritannien gewesen, doch in den chaotischen Jahren der Vampirangriffe waren viele Reliquien und Kunstschätze heimlich fortgeschafft worden. Im kaiserlichen Palast in Alexandria hingen Gemälde der englischen Landschaft, die für Adele genauso gut einen anderen Planeten hätten darstellen können. Doch nun blickte sie auf diese mythische Landschaft hinunter. Sie war verwildert seit jenen großen Tagen der edlen Gutsherren, die ihre preisgekrönten Färsen vorführten, doch man konnte die Konturen der Felder und Weiden aus der Luft immer noch erkennen. Städte und Dörfer allerdings lagen in Ruinen und waren größtenteils verlassen, nur selten und vereinzelt verrieten dünne Rauchfäden die Existenz der menschlichen Herden der Vampire.

Plötzlich wurde Adele von einem fürchterlichen Gestank überwältigt. Sie hustete und hielt sich die widerliche Decke vors Gesicht. Nichts, was sie je erlebt hatte, kam dem ekelerregenden Geruch gleich, der zu ihr emporwehte – nicht einmal die Elendsviertel von Kairo im Sommer. Der Grund für den Gestank tauchte am nördlichen Horizont auf. Ein dunkler Umriss kauerte am glänzenden Band eines Flusses. Es war London, die große Stadt. London, der Sitz des Vampirclans, der Großbritannien regierte.

Es gab viele Berichte über das London des neunzehnten Jahrhunderts, wie es ausgesehen hatte, bevor die Vampire kamen. Die junge Prinzessin war von den Beschreibungen und Bildern der Pracht dieser Stadt verblüfft gewesen. Es war das Zentrum von Kunst, Wissenschaft und Technologie gewesen, das Zentrum der Welt. Jetzt war es das Herz eines leichenhaften Königreichs. Vor Jahrhunderten hatten Reisende sich oft beklagt, dass London stank, nach Rauch und Chemikalien und dichten Menschenmengen. Adele konnte bezeugen, dass es immer noch grauenhaft roch, doch nun war es der Gestank nach Blut und Verwesung.

Sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, was sie gleich sehen würde. Seit Jahren erreichten entsetzliche Berichte über den elenden Zustand der großen Städte Nordeuropas den Süden. Adele waren Schauer über den Rücken gelaufen, wenn sie die grausigen Kommuniqués in ihren warmen, nach Zitronen duftenden Gärten gelesen hatte. Doch diese Berichte hatten die Prinzessin in keinster Weise auf die instinktive Reaktion vorbereitet, die sie überfiel, als ihr die eigenen Sinne den Beweis lieferten.

Das marode Luftschiff sank tiefer und näherte sich den Kirchtürmen und Kuppeln und den grässlich schiefergrauen Gebäudekomplexen. Adele sah dunkle Hügel, die auf den Alleen, Straßen und Gassen verstreut waren. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Hügeln um Leichenhaufen handelte. Die weiten Plätze und engen Höfe der Stadt waren mit Knochen übersät. Die Themse hatte gerade Ebbe, und als das Luftschiff darüberglitt, sah Adele weiße Oberschenkelknochen und Rippen aus dem Morast entlang der Uferlinie ragen. Fast alle Glasfenster der Stadt waren zerbrochen, bis auf einige der bunten Bleiglasfenster von Westminster, erstaunlicherweise. Grünes Gras spross zwischen den Pflastersteinen hervor, während üppige Kletterpflanzen ungehindert Gebäude überwucherten und Statuen von einstmals bedeutenden Menschen verhüllten. Das Luftschiff glitt über das eingestürzte Dach des Parlamentsgebäudes hinweg. Dunkle Gestalten klammerten sich an die Außenseite der von Efeu erstickten Ruinen des Uhrturms Big Ben und erhoben sich in die Luft wie Schmeißfliegen von einem Kadaver. Adeles Herz raste vor Entsetzen und Verzweiflung angesichts so vieler von ihnen.

 

 

Copyright © by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH